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William James
Die Vielfallt religiöser Erfahrung.


Eine Studie über die menschliche Natur.

OT: The Varieties of Religious Experience (1901/02)
Ü: Eilert Herms, Christian Stahlhut


Frankfurt, 1997
581 Seiten, gebunden
Insel Verlag
Preis: 64,00 DM

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William James (1842-1910) lehrte von 1876 bis 1907 an der Universität Harvard Psychologie und Philosophie. Er ist einer der Väter des philosophischen Pragmatismus, jener Schule, die den Handlungserfolg als Richtschnur philosophischer Reflexion betrachtet (Amerikas Antwort auf die europäische Metaphysiktradition). William James ist es gelungen, den Pragmatismus zu einer weltweiten geistigen Bewegung zu machen. Daneben wirkte James bahnbrechend in der modernen empirischen Psychologie.

Sein Werk über die Vielfalt religiöser Erfahrung erschien zuerst 1901/02 und gehört längst zu den klassischen Büchern der Psychologie des 20. Jahrhunderts, ein Buch, auf das auch heute noch ausgiebig Bezug genommen wird.

Frühere Religionstheorien entstammten mehr oder weniger direkt der bürgerlichen philosophischen und politischen Religionskritik. Der Emanzipationskampf des Bürgertums gegen den Machtanspruch kirchlicher Institutionen sowie die Auflehnung der sich entwickelnden Naturwissenschaften gegen theologisch dogmatische Bevormundung haben der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion eine allzu beschränkte Fragestellung vermittelt. Kaum war ernsthaft die Frage gestellt worden: Was ist religiöse Erfahrung? Bestenfalls wurde diese Frage als wissenschaftlich bedeutungslos beiseite geschoben: Religiöse Erfahrung entzieht sich aller Rationalität und damit wissenschaftlicher Mitteilbarkeit. Oder man sah sie, in der Tradition Sigmund Freuds als von der Geschichte längst schon erledigt an: Religiöse Erfahrung galt als ein in den Kinderschuhen steckengebliebenes und damit immer schon verzerrtes Bewußtsein.

Dieser Ansicht, nach der Religion nichts weiter sein soll als ein atavistischer Rückfall in eine Denkweise, über die die Menschheit in ihren aufgeklärten Exemplaren hinausgewachsen ist, arbeitet William James entgegen. Religiöse Erfahrung als subjektiv-innere Erlebnisqualität, interessiert James in ihrem Eigenleben über alle historisch-konkrete Institutionialisierung der Religion hinaus, jenseits aller gesellschaftlich etablierten Moral.

Für James ist die religiöse Erfahrung ein innerpsychischer Prozeß, hat religiöser Glaube eine zentrale Bedeutung für das Gesamtleben des Menschen.

James' Buch ist nicht nur ein Werk von kulturgeschichtlichem Rang, es ist auch von unverminderter Aktualität.
(aus dem Klappentext)

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Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort von Peter Sloterdijk.
    Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltenwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluß an einige Motive bei William James.

  2. Vorlesung I - Religion und Neurologie.
    Die Vorlesung geht nicht anthropologisch vor, sie beschäftigt sich vielmehr mit persönlichen Dokumenten. Tatsachenfragen und Wertfragen. Über die Tatsache, daß religiöse Menschen häufig neurotisch sind. Kritik am medizinischen Materialismus, der die Religion deswegen verurteilt. Widerlegung der Theorie vom sexuellen Ursprung der Religion. Alle Bewußtseinszustände sind neutral konditioniert. Ihr Wert läßt sich nicht an ihrer Herkunft messen, sondern muß an ihren Früchten überprüft werden. Drei Wertkriterien; der Ursprung als untaugliches Kriterium. Vorzüge des psychopathischen Charakters, wenn er mit überdurchschnittlicher Intelligenz einhergeht, besonders für das religiöse Leben.

  3. Vorlesung II - Umschreibung des Gegenstandes.
    Nutzlosigkeit einfacher Definitionen von Religion. Es gibt kein spezifisches religiöses Empfinden. Institutionelle und persönliche Religion. Wir beschränken uns auf den persönlichen Bereich. Definition von Religion für die Zwecke dieser Vorlesung. Bedeutung des Wortes göttlich. Göttlich ist, was Gefühle von Feierlichkeit hervorruft. Es ist unmöglich, zu einer klaren Definition zu kommen. Wir müssen die extremen Fälle studieren. Zwei Arten von Einverständnis mit dem Universum. Religion ist enthusiastischer als Philosophie. Ihr Kennzeichen: Enthusiasmus bei feierlicher Bewegtheit. Ihre Fähigkeit, Zustände des Unglücks zu überwinden. Der Sinn einer solchen Fähigkeit aus biologischer Sicht.

  4. Vorlesung III - Die Wirklichkeit des Unsichtbaren.
    Wahrnehmung contra abstrakte Begriffe. Der Einfluß von Vorstellungen auf den Glauben. Kants theologische Ideen. Wir haben ein Empfinden für eine Wirklichkeit, die von Einzelsinnen nicht wahrgenommen wird.Beispiele für das Empfinden von Gegenwart. Das Gefühl von Unwirklichkeit. Wahrnehmung einer göttlichen Gegenwart: Beispiele. Mystische Erfahrungen: Beispiele. Andere Fälle von Wahrnehmung von Gottes Gegenwart. Überzeugungskraft der nichtrationalen Erfahrung. Unterlegenheit des Rationalismus in Glaubensdingen. In der individuellen religiösen Erfahrung überwiegen entweden Enthusiasmus oder Feierlichkeit.

  5. Vorlesung IV und V - Die Religion des gesunden Geistes.
    Der Mensch sucht vor allem nach innerer Zufriedenheit. Einmal Geborene und zweimal Geborene. Walt Withman. Die Doppelnatur des griechischen Lebensgefühls. Methoden geistigen Gesundseins. Seine Vorteile. Der gesunde Geist im Liberalen Christentum. Der von den Populärwissenschaften geförderte Optimismus. Die Mind-cure-Bewegung. Ihre Glaubenssätze, Fallbeispiele, ihre Lehre vom Bösen, ihre Analogie zur Lutherischen Theologie. Erlösung durch Entspannung. Ihre Methoden: Suggestion. Meditation. Sammlung. Bewährung. Die Vielfalt möglicher Grundeinstellungen zum Universum. Anhang: zwei Mind-cure-Fälle.

  6. Vorlesung VI und VII - Die kranke Seele.
    Der gesunde Geist und die Reue. Wesenhafter Pluralismus der Philosophie des gesunden Geistes. Der kränkelnde Geist: seine zwei Stufen. Die Schmerzschwelle variiert individuell. Unsicherheit der natürlichen Güter. Fehlschläge und Scheinerfolge des alltäglichen Lebens. Der Pessimismus jedes reinen Naturalismus. Die Hoffnungslosigkeit der griechischen und römischen Weltsicht. Pathologisches Unglücklichsein. Anhedonie. Jammernde Melancholie. Lebensfreude ist ein Geschenk. Ihr Verlust läßt die körperliche Welt anders aussehen. Tolstoj. Bunyan Alline. Krankhafte Angst. Von ihr erlöst nur eine übernatürliche Religion. Der Antagonismus von gesunder und kränkelnder Geisteshaltung. Dem Problem des Bösen kann man nicht entkommen.

  7. Vorlesung VIII - Das gespaltene Selbst und sein Vereinigungsprozeß.
    Heterogene Persönlichkeitsstruktur. Der Charakter erlangt seine Einheit schrittweise. Die erreichte Einheit braucht keine religiöse zu sein. Fälle von Gegenbekehrung. Weitere Fallbeispiele. Schrittweise und plötzliche Einswerdung. Tolstojs Genesung. Bunyans Genesung.

  8. Vorlesung IX - Bekehrung.
    Fälle von plötzlicher Bekehrung. Die Psychologie der Charakterveränderungen. Emotionale Erregungen schaffen neue Zentren der persönlichen Energie. Schematische Darstellungsformen dieses Sachverhalts. Starbuck vergleicht die Bekehrung mit einem nomalen Reifungsprozeß. Leubas Vorstellungen. Menschen, die anscheinend nicht bekehrbar sind. Zwei Arten von Bekehrung. Unterbewußte Inkubation von Motiven. Selbsthingabe. Ihre Bedeutung in der Religionsgeschichte. Fälle.

  9. Vorlesung X - Bekehrung (Schluß).
    Fälle von plötzlicher Bekehrung. Ist Plötzlichkeit wesentlich? Nein, sie hängt von psychologischen Eigenarten ab. Die Existenz des transmarginalen oder subliminalen Bewußtseins. Automatismen. Plötzliche Bekehrungen scheinen darauf zurückzugehen, daß das Subjekt ein aktives unterbewußtes Selbst besitzt. Der Wert einer Bekehrung hängt nicht von ihrem Verlauf ab, sondern von ihren Früchten. Diese sind in Fällen plötzlicher Bekehrung nicht besser. Die Anschauungen von Prof. Coe. Heiligung als ein Ergebnis. Unsere psychologische Erklärung schließt die Gegenwart Gottes nicht aus. Das Gefühl einer höheren Lenkung. Die Beziehung zwischen gefühlsmäßigem Vertrauens-Zustand und verstandesmäßigen Überzeugungen. Zitat von Leuba. Kennzeichen des Vertrauens-Zustandes: Gefühl von Wahrhaftigkeit; die Welt erscheint neu. Sensorische und motorische Automatismen. Dauer der Bekehrung.

  10. Vorlesung XI, XII und XIII - Heiligkeit.
    Saint Beuve über den Zustand der Gnade. Die Art des Charakters bestimmt sich aus der Ballance von Antrieben und Hemmungen. Dominante Erregungen. Reizbarkeit. Allgemeine Wirkungen höherer Erregung. Diese kann wahrscheinlich zur dauerhalften Aufhebung der Sinnentriebe führen. Wahrscheinliche Mitwirkungen von unterbewußten Einflüssen. Schematische Darstellung dauerhafter Charakterveränderungen. Kennzeichen der Heiligkeit. Das Empfinden der Wirklichkeit einer höheren Macht. Seelenruhe und Nächstenliebe. Gleichmut, Tapferkeit etc. In Verbindung mit Entspannung. Reinheit des Lebens. Askese. Gehorsam. Armut, Demokratische und humanitäre Gesinnung. Allgemeine Wirkungen höherer Erregungen.

  11. Vorlesung XIV und XV - Der Wert der Heiligkeit.
    Heiligkeit muß an ihren Früchten für den Menschen gemessen werden. Die Realität Gottes muß jedoch auch beurteilt werden. Untaugliche Religionen werden durch Erfahrung ausgeschieden. Empirismus ist nicht Skeptizismus. Individuelle Religion und Stammesreligion. Die Einsamkeit der Religionsstifter. Dem Erfolg folgt der Verfall. Überspanntheiten. Exzessive Unterwürfigkeit wie Fanatismus, theopathische Versenkung, exzessive Reinheit, exzessive Nächstenliebe. Der Mensch kann nur so vollkommen sein wie die Umgebung, der er sich anpaßt. Heilige sind Sauerteig. Exzesse der Askese. Askese als Symbol eines heroischen Lebens. Militarismus und gewollte Armut als mögliche Äquivalente. Was für und was gegen das Heiligsein spricht. Heilige versus Kraftmenschen. Man muß ihre gesellschaftliche Funktion betrachten. Abstrakt betrachtet ist der Heilige der am höchsten entwickelte Menschentypus, in der jeweiligen Umgebung kann er jedoch scheitern. So machen wir uns auf eigene Gefahr zu Heiligen. Das Problem der theologischen Wahrheit.

  12. Vorlesung XVI und XVII - Mystik.
    Definition von Mystik. Vier Kennzeichen mystischer Zustände. Sie bilden eine besondere Region des Bewußtseins. Beispiele schwächerer Formen. Mystik und Alkohol. Die anästhetische Offenbarung. Religiöse Mystik. Naturanschauung. Gottesbewußtsein. Kosmisches Bewußtsein. Yoga. Buddhistische Mystik. Sufismus. Christliche Mystiker. Ihr Offenbarungssinn. Stärkende Wirkungen mystischer Zustände. Beschreibung durch Negationen. Das Gefühl der Vereinigung mit dem Absoluten. Mystik und Musik. Drei Schlußfolgerungen: (1) Mystische Zustände haben für die Betroffenen Autoritätscharakter, (2) aber für niemanden sonst, (3) dennoch brechen sie den Alleinherrschaftsanspruch rationaler Zustände. Sie stärken monistische und optimistische Hypothesen.

  13. Vorlesung XVIII - Philosophie.
    Primat des Gefühls in der Religion, die Philosophie hat eine sekundäre Funktion. Der Intellektualismus lehnt bei seinen theologischen Konstruktionen alle subjektiven Maßstäbe bewußt ab. Dogmatische Theologie. Kritik ihrer Attributenlehre. Pragmatismus als Kriterium für den Wert von Begriffen. Die metaphysischen Attribute Gottes haben keine praktische Bedeutung. Seine moralischen Eigenschaften werden durch schlechte Argumente bewiesen; Zusammenbruch der systematischen Theologie. Ergeht es dem transzendentalen Idealismus besser? Seine Prinzipien. Zitate von John Caird. Sie sind gut zur Bestätigung religiöser Erfahrung, aber als Vernunftbeweis nicht zwingend. Was die Philosophie für die Religion tun kann, wenn sie sich in eine Religionswissenschaft verwandelt.

  14. Vorlesung XIX - Weitere Charakteristika.
    Ästhetische Elemente in der Religion. Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus. Opfer und Sündenbekenntnis. Das Gebet. Die Religion glaubt, daß im Gebet reale spirituelle Wirkungen erzielt werden. Drei Ansichten über die Art dieser Wirkungen. Erste Stufe. Zweite Stufe. Dritte Stufe. Automatismen, ihre Häufigkeit bei Religionsführern. Fälle aus dem Judentum. Mohammed. Joseph Smith. Religion und der unterbewußte Bereich im allgemeinen.

  15. Vorlesung XX - Schlußfolgerungen.
    Zusammenfassung der religiösen Charakteristika. Die religiösen Bedürfnisse der Menschen sind nicht identisch. Die Religionswissenschaft kann Glaubenssätze nur nahelegen, nicht verkünden. Ist Religion ein Überbleibsel primitiven Denkens? Die moderne Wissenschaft schließt den Begriff der Persönlichkeit aus. Anthropomorphismus und Glaube an das Persönliche sind Kennzeichen des vorwissenschaftlichen Denkens. Trotzdem sind persönliche Kräfte real. Die Objekte der Wissenschaft sind Abstraktionen, nur individuelle Erfahrungen sind konkret. Die Religion hält sich an das Konkrete. Religion ist primär eine biologische Reaktion. Ihr einfachster Ausdruck sind ein Unbehagen und eine Befreiung; Beschreibung der Befreiung. Frage, ob die höhere Macht real ist. Die Hypothesen des Autors: (1) Das unterbewußte Selbst als Vermittlungsinstanz zwischen der Natur und der höheren Region. (2) Die höhere Region oder Gott. (3) Er verursacht reale Wirkungen in der Natur.

  16. Nachwort.
    Bestimmung der philosophischen Position des vorliegenden Werkes als stückhafter Supernaturalismus. Kritik des universalistischen Supernaturalismus. Verschiedene Prinzipien müssen verschiedene Wirklichkeiten hervorbringen. Wie wirkt sich die Existenz Gottes auf die faktische Wirklichkeit aus? Die Frage der Unsterblichkeit. Die Frage der Einzigartigkeit und Unendlichkeit Gottes: Religiöse Erfahrung entscheidet diese Frage nicht positiv. Die pluralistische These entspricht mehr dem gesunden Menschenverstand.

  17. Anmerkungen.



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© 1997 Friedhelm Pielage